Authentizität
Eine der Prämissen dieser Arbeit besagt, daß Fotografie und Autobiographie unter der Annahme ihrer Authentizität daß das, was dargestellt wird, auch so, wie es dargestellt wird, gewesen ist rezipiert werden. Der Begriff der Authentizität meint dabei jedoch verschiedenes: eine authentische Fotografie zeigt die äußere Wirklichkeit, wie sie ist, eine Autobiographie enthüllt die innere Wahrheit des Subjektes. Die Authentizität einer Fotografie zeigt sich in der wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe des Augenblicks, die der Autobiographie in der wahrhaften Wiedergabe der Selbstinterpretation des Subjektes, in welcher Vergangenheit und Gegenwart vereinigt werden. Ob dieser Unterschied für die Rezeption relevant wird, hängt von der Rezeptionshaltung ab. Es gilt zu unterscheiden zwischen einer "naiven" Rezeption, die zwischen den verschiedenen Eben auf denen sich Authentizität manifestieren kann, nicht differenziert, und einer "analytischen", die diese Differenzierung vornimmt.
Es kann davon ausgegangen werden, daß die meisten Leser von Autobiographien oder Betrachter von dokumentarischen Fotografien2 , zunächst mit einer naiven Rezeptionshaltung an ein Werk herantreten. Die Annahme der Authentizität bedeutet dann, daß alle Aspekte des Werkes als "wahr" angesehen werden. Stimmen die erzählten Fakten nicht, oder wurde das Bild manipuliert, so wird entweder eine differenzierte Analyse begonnen oder das jeweilige Werk als "unwahr" verworfen. Eine analytische Rezeptionshaltung hingegen schließt nicht von der exakten Fotografischen Wiedergabe auf die Richtigkeit der Fakten, die eine Fotografie "beweisen" soll, und weiß den Einfluß der Unsicherheit des Gedächtnisses wie den der gestalterischen Notwendigkeiten auf eine Selbstbiographie zu berücksichtigen.
Wie sich die Authentizitätsannahmen von Autobiographien und Fotografien auf unterschiedliche Aspekte beziehen, so begründen sie sich auch auf verschiedene Weise. Das "Es-ist-so-gewesen" der Fotografie resultiert zum Teil aus den Bedingungen ihrer technischen Produktion, zum Teil aus der Erfahrung im Gebrauch der Fotografie. Die Authentizität der Autobiographie ist dagegen eine der Konvention. Wenn ein Autor ein Werk als Darstellung seines Lebens kennzeichnet, so "verspricht" er damit, die Wahrheit zu sagen. Dieser Unterschied beginnt zu verschwinden. Mit den zunehmend einfachen Möglichkeiten der Manipulation von Fotos und der Erstellung "fotorealistischer" Abbildungen hängt die präjudizierte Glaubwürdigkeit einer fotografischen Abbildung in steigendem Maße von der Glaubwürdigkeit des Rahmens ihrer Publikation ab. In gewissem Sinne bietet auch der Herausgeber eines "dokumentarischen" Fotos mittlerweile dem Rezipienten in Analogie zum autobiographischen Pakt einen Vertrag über die "Echtheit" des Fotos und die Korrektheit seiner Verwendung an.
Ob ein Werk als authentisch akzeptiert wird, hängt vom Einsatz der gestalterischen Mittel. Diese können den Eindruck seiner Wirklichkeitstreue oder seines Wahrheitsgehaltes verstärken oder zerstören. Im Medium der Fotografie sind diese Mittel in erster Linie formaler Art. Denn die Bedeutung einer Fotografie wird primär individuell durch den Betrachter über die Identifikation der abgebildeten Objekte hergestellt, und die Authentizitätsannahme der Fotografie bezieht sich auf die Exaktheit der Abbildung ihres "Inhaltes" der wiedergegebenen Wirklichkeit nicht auf den Inhalt selbst. Die Mittel, mit denen im Bereich der literarischen Autobiographie Authentizität vermittelt wird, sind hingegen primär inhaltlicher Natur. Durch Beteuerung der eigenen Ehrlichkeit, durch Selbstreflexion des literarischen Prozesses und durch den Aufbau einer gleichsam intimen Beziehung zum Leser kann der Autor einer Autobiographie Indizien seiner Aufrichtigkeit liefern, gleichwohl es auch formale Mittel, wie z.B. das Schreiben in der 1.Person Singular gibt.
Autobiographie und Fotografie erweisen sich somit unter dem Aspekt ihrer Authentizität als komplementär. Die Bezugsebenen der Authentizitätsannahme, worauf diese begründet wird, und die Mittel mit denen der Authentizitätseindruck verstärkt wird, sind verschieden. Kombiniert man beide, indem man die Mittel der Fotografie auf die literarische Autobiographie überträgt bzw. Fotografien und Texte in einem autobiographischen Projekt verbindet, so ergänzen sich die unterschiedlichen Authentizitätsaspekte. Es wird ein Raum zur Erzeugung eines besonders starken Authentizitätseindruckes oder zu einem Spiel mit der Authentizität eröffnet.
Beide Möglichkeiten lassen sich an Hervé Guiberts Projekt der Selbstenthüllung studieren. Durch den Verweis der einzelnen Teile des Projektes aufeinander, insbesondere durch den "fotografischen Existenzbeweis" einzelner Personen und Objekte, sowie durch seinen literarischen Stil, der die fotografische Unmittelbarkeit in die Literatur übertragen soll, wird über große Strecken seines Werkes der Eindruck von Authentizität erzeugt. Daß eine naive Rezeptionshaltung daher Guiberts schonungslose Offenheit lobt, kann nicht verwundern. Aber es geht Guibert nicht um ein derart einsinnige Authentizität, sondern um die "Wahrheit der Schrift". Fiktion scheint dem Autor dabei zur Darstellung der inneren Wahrheit des Subjektes zum Teil geeigneter als Dokumentation. Die Vorstellung der Erkennbarkeit des Subjektes ist für Guibert eine Fiktion. Die widersprüchliche und paradoxe äußere Wirklichkeit kann ebensowenig in einer eindeutigen Darstellung gefaßt werden, wie die inneren Widersprüche des Subjektes. Daher nutzt er die Mittel der Authentizität, um offensichtliche Fiktion zu schildern, entwickelt er Paradoxe über die Beweiskraft der Fotografie.
Nan Goldins fotografisches Werk hingegen basiert auf einer Vorstellung von Authentizität, die der naiven Rezeptionshaltung gleicht. Durch die Beweiskraft des Mediums soll ihre "Familie" konstituiert und im Werk manifestiert werden. Indem sie ihr Leben und die Lebensweise verschiedener Randgruppen fotografisch darstellt, soll verhindert werden, daß die Existenz dieser Lebensweisen geleugnet werden kann und deren Verständnis ermöglicht werden. Im Glauben an die Wahrheit der Fotografie macht sie diese zum wichtigsten Mittel in einem Werk, daß von der Utopie eines authentischen Lebens motiviert ist.
Dabei ist die einzig sichere Wahrheit, daß es keine sicheren Wahrheiten mehr gibt. Das Bedürfnis nach sicheren Wahrheiten scheint aber dennoch ungebrochen, und indem Menschen zur Kamera greifen, um ihr Leben festzuhalten, oder ihre Autobiographie verfassen, verleihen sie dem Bedürfnis, wenigstens einen Moment ihrer inneren Wahrheit zu objektivieren, Ausdruck.