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Autobiographie in Bewegung

 

 

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Zu den Zeiten Rousseaus und Montaignes war nur ein kleiner Teil der Gesellschaft in der privilegierten Situation, seine Autobiographie verfassen zu können. In den bürgerlichen Gesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Bestimmung der eigenen Individualität für alle Bürger gleichermaßen zum Problem wie zur Aufgabe geworden. Das Individuum wird immer weniger durch seine Herkunft bestimmt, seine Funktion in der Gesellschaft ist nicht schon bei Geburt vorgegeben. Die Unterscheidungsmerkmale von den anderen hat es selbst zu schaffen, zumal die Merkmale für seinen Tauschwert auf dem Arbeitsmarkt ebenso von Bedeutung sind, wie in den von der Ökonomie durchdrungenen Bereichen des Privatlebens. Ganze Industriezweige leben vom Bereitstellen oberflächlicher Differenzierungsmöglichkeiten. Die Forderung, darzustellen, wer man sei, ist daher in der Werbung und den Medien ständig präsent. Die immer komplexeren Lebensverhältnisse wie der ständige Differenzierungsdruck ermöglichen es den Individuen immer weniger, sich als Einheit zu erfahren.

Die hohe Präsenz der verschiedenen modernen Massenmedien im Alltag, verändert die kulturellen Grundlagen der Industriegesellschaften. Dabei von einem Verschwinden der Schriftkultur zu sprechen, wäre jedoch falsch: Nie wurden mehr Texte publiziert, nie wurde der Einzelnen mit größeren Textmengen konfrontiert. Insofern auch eine nie gekannte Masse bewegter und unbewegter Bilder auf die Individuen einstürzt, verändert sich die Kultur von einer reinen Schriftkultur zu einer Medienkultur. Literatur im emphatischen Sinne bildet einen Bestandteil, dessen Bedeutung jedoch durch die Präsenz der anderen Medien im Sinken begriffen ist. Die erzählende Literatur ist daher nicht mehr die einzige Form, in der eine Darstellung des eigenen Lebens stattfindet, bzw. in deren Struktur eine derartige Darstellung ihr Vorbild hat.

Die Präsenz der Bildmedien verändert die Wahrnehmung der Welt wie des Selbst. Zum einen wird durch Fotografie, Film und Fernsehen der Bereich des Wahrnehmbaren erweitert, gleichzeitig findet die Wahrnehmung der Wirklichkeit in immer stärkeren Maße als Wahrnehmung der repräsentierten Wirklichkeit statt. Durch letzeres wird das Verhältnis von Fiktion und Dokumentation verändert. Beide Bereiche finden in den selben Formen statt und beginnen sich zu durchdringen. In der Wahrnehmung des Selbst wiederum verlagert sich die Betonung von der inneren Wahrnehmung zu der des äußeren Erscheinungsbildes. Nicht zuletzt, weil in den Bildmedien das Innere einer Person nur über ihr Äußeres dargestellt werden kann und das Erscheinungsbild als Differenzierungsmerkmal der Individuen die ökonomische Grundlage diverser Industrien bildet.

Besondere Bedeutung kommt dabei dem Medium Fotografie zu, insofern fast alle Bürger der westlichen Industrienationen ihr Leben fotografisch festhalten. Die steigenden Verkaufszahlen von Amateurvideokameras ändern daran nur wenig, denn die Videos der Gelegenheitsvideofilmer unterscheiden sich zumeist nur durch die Bewegtheit der Bilder von privaten Fotoalben. Den ästhetischen Bedingungen des Mediums Film Rechnung zu tragen, gelingt bereits durch den dafür notwendigen Aufwand nur den wenigsten Hobbyfilmern.

Die genannten Entwicklungen verändern den Begriff der Autobiographie. Die Strukturen der Bildmedien werden in den Bereich der literarischen Autobiographie übertragen und verändern die Form der Narration. Wie gezeigt, ist das Medium Fotografie geeignet, im Medium der Literatur der Fragmentierung des Subjektes gerecht zu werden Autobiographie ist nicht mehr notwendigerweise das Erzählen der eigenen Geschichte, zumal der Begriff der Geschichte selbst zur Disposition gestellt worden ist. Wenn die "Wahrheit des Subjektes" zunehmend in seinem Äußeren verortet wird und das Fotoalbum als angemessene Form der Selbstrepräsentaion akzeptiert ist, so ist das Individuum zur Darstellung seines Lebens nicht mehr auf die literarische Form verwiesen, sondern wird die Darstellung in fotografischen Bildern möglicherweise sogar als die seiner Person gemäßere erachten.

Diese Entwicklungen bedeuten kein Verschwinden der Autobiographie. Wenn das Feld der Subjektivität nicht verlassen werden kann, so folgt daraus, daß die literarische Autobiographie nicht verschwindet. Ob eine Darstellung des eigenen Lebens in Fotos eine visuelle Autobiographie vorstellt, ist letztlich eine Frage der Terminologie. Die Etymologie des Wortes und seine Konnotation mit den literarischen Selbstenthüllungen seit Rousseau sprechen dagegen, aber je mehr die diesen zugrundeliegende Erfahrung des Subjektes als identisches der Erfahrung der Individuen widerspricht, desto eher wird eine Darstellung des Selbst in Bildern als Selbstinterpretation akzeptiert.

Daraus daß Jean-Jacques Rousseau sich in der Annahme, sein Unternehmen würde "niemals einen Nachahmer finden"4, täuschte, folgt schließlich nicht, daß er das Phänomen der Autobiographie bis in alle Ewigkeit definiert hätte.

 

 



©1999 Bernd Neugebauer

 

 

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