"To the future or to the past, to a time when thought is free, when men are different from another and do not live alone to a time when truth exists and what is done cannot be undone"
George Orwell: "1984"5
Die Beschränkung dieser Arbeit auf chemische Fotografie wirkt schon fast nostalgisch. Die gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen, insbesondere im Bereich der visuellen Medien, werden das Feld der Autobiographie auch weiterhin verändern. Der technologische Umbruch der Fotografie wird die Begriffe von Authentizität, Wahrheit und Wirklichkeit nachhaltig transformieren. Sichere Prognosen sind dabei nicht möglich, aber einige begründete Spekulationen sollen das hier entworfene Bild abrunden und den historischen Standpunkt der Analyse kenntlich machen.
Digital manipulierte oder erzeugte Bilder beherrschen längst den Alltag der Mediengesellschaft. Die wenigsten davon sind so spektakulär wie die elektronisch animierten Saurier aus Steven Spielbergs "Jurassic Park," und daher werden sie zumeist vom Betrachter als solche nicht erkannt. Dabei wird kaum ein Film veröffentlicht, kaum ein Foto gedruckt, daß nicht einer elektronischen Nachbearbeitung unterzogen wurde. Solange diese Veränderungen unmerklich sind und die Individuen nur als Rezipienten mit ihnen in Kontakt kommen, sind ihre Auswirkungen auf den Begriff der Authentizität unerheblich.
Die meisten privaten Fotografien werden noch auf chemischen Film festgehalten, aber die sinkenden Preise und steigenden Verkaufszahlen digitaler Schnappschuß-Kameras deuten den Einzug dieser Techniken in den privaten Bereich an. Handelsübliche PCs haben genügend technische Kapazität zur elektronischen Bearbeitung zumindest stehender Bilder, und handelsübliche Drucker können diese in einer Qualität ausdrucken, die die der Sofortbildfotografie schon heute übertrifft. Spätetestens sobald viele Menschen von Rezipienten zu Produzenten digital manipulierter Fotografien sind, dürfte die Annahme des "Es-ist-so-gewesen" ihre Wirkmächtigkeit einbüßen. Ob dieser Fall eintritt, ist allerdings ein wenig fraglich, denn die Produktion "fotorealistischer" Abbildungen bedarf nicht nur der entsprechenden technischen Ausrüstung, sondern auch spezifischer Talente, wie visueller Phantasie oder der Gabe zur exakten Naturbeobachtung.
Der Erfolg des Mediums Fotografie lag auch in seiner einfachen Handhabung begründet "You press the button, we do the rest." Virtuelle "Realität" ist aber bei allem technologischen Fortschritt nicht auf Knopfdruck zu haben, und es bleibt fraglich, ob im privaten Bereich überhaupt ein Bedarf dafür besteht. Mittels der Fotografie seine Erinnerungen ohne künstlerische Ambitionen festzuhalten, scheint ein nachvollziehbares Anliegen zu sein, aber warum sollte man virtuelle Welten erschaffen? Somit ist durchaus denkbar, daß im Bereich der Gelegenheitsfotografie nur ein Wandel des technischen Verfahrens ohne Veränderung der Rezeptionsgrundlage stattfindet.
Bezieht man den Faktor Videospiele in die Betrachtung des Wandels der Rezeption "fotorealistischer" Bilder ein, scheint langfristig jedoch ein Verschwinden der fotografischen "Es-ist-so-gewesen"-Annahme am wahrscheinlichsten. Die Darstellungen der Videospiele nähern sich immer stärker dem Ziel des "Fotorealismus" an, und insofern die von der Spielkonsole gelieferten Bilder als fiktional erkannt werden, dürfte es sich um den Bereich handeln, indem zuerst der Umgang mit "realistischen" gleichwohl nicht-authentischen Bildern eingeübt wird. Daher ist zu erwarten, daß das Medium Fotografie sich in ein Genre des Medientyps unbewegtes Bild wandelt und nicht mehr in dem Maße wie bisher mit der Annahme Wirklichkeit abzubilden, verknüpft ist. Hat die Fotografie erst ihre Beweiskraft verloren, werden autobiographische Projekte wie Nan Goldins "visuelles Tagebuch", das auf der "Wahrheit der Fotografie" beruht, anachronistisch. Die Befreiung der Fotografie von ihrer Authentizitätsannahme ist kaum als Verlust anzusehen, denn diese Annahme war schon immer eine Fiktion.
Die "digitale Revolution" betrifft das Feld der Autobiographie nicht nur in seinem Verhältnis zur Fotografie und dem Begriff der Authentizität. Insbesondere das Internet stellt neue Möglichkeiten der Selbstrepräsentation zur Verfügung. Täglich aktualisierte Internettagebücher oder die Echtzeitpublikation des eigenen Lebens via Webcam gewissermaßen als private "Truman Show" zeigen neue Formen der Veröffentlichung des Privaten. Der verbreitete Brauch der "privaten Homepage" dient zwar wohl in erster Linie dem Nachweis der eigenen Präsenz im neuen Medium, und die dementsprechenden Inhalte zeigen zumeist keinerlei Affinität zum Begriff der Autobiographie. Aber die Idee einer Autobiographie via Internet ist zu naheliegend, als daß sie früher oder später nicht auch verwirklicht würde.
Zumal das Internet langfristig die Rezeption von Texten verändern dürfte. Der Hauptunterschied zwischen Texten auf Papier und im Netz liegt in der Möglichkeit der Nichtlinearität der letzteren. Daß das Potential dieser Eigenschaft noch nicht ausgenutzt wird, besagt dabei nichts. Das Internet ist ein Medium in den Kinderschuhen, ein Raum ästhetischer Möglichkeiten, dessen Eroberung erst beginnt. Da aber alle die gestalterischen Mittel aller "neuen" Medien wie Film, Fernsehen und Fotografie von Schriftstellern in die Literatur und die Gattung der Autobiographie transformiert wurden, ist dergleichen auch für das Medium Internet zu erwarten. Ob es, wie von seinen Propheten behauptet, eine Revolution Gutenbergscher Dimension markiert, muß die Zukunft zeigen, einen Spielplatz für ästhetische Experimente bildet es allemal.
Wird das Internet zu einem Massenmedium mit der gleichen Bedeutung, wie sie heute das Fernsehen einnimmt, dann läßt seine Nichtlinearität auch ein weiteres Fortschreiten einer fragmentierten Wahrnehmung erwarten. Die steigende Komplexität der Lebensverhältnisse läßt ohnehin auf eine zunehmende Fragmentierung der Selbstwahrnehmung der Subjekte schließen wovon die Form künftiger Autobiographien nicht unberührt bleiben wird.
Am Grunde jeder Autobiographie liegen Konzeptionen der Subjektivität und der Individualität. Diese dürften künftig tiefgreifende Veränderungen durch die Entwicklung der Reproduktionsmedizin und der Gentechnologie erfahren. An dieser Stelle sind keinerlei Prognosen möglich, die Materie ist dafür zu komplex und zu weit vom Zusammenhang zwischen visuellen Medien und Autobiographie, in den diese Arbeit gehört, entfernt, um für begründete Spekulationen geeignet zu sein. Daher sei nur eine Frage erwähnt, die Autobiographien reflektieren könnten: Wie wird sich ein Subjekt erfahren, dessen Eigenschaften per Gentest selektiert wurden und dessen Leben in der Petrischale begann?
Insofern alle genannten Entwicklungen technisch-wissenschaftlicher Natur sind und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft nicht verändern, scheint jedoch eins sicher. Das mit dieser Gesellschaftsform verknüpfte autobiographische Bedürfnis wird bestehen bleiben, und Rousseau noch viele "Nachahmer" finden in welchem Medium auch immer.