Traditionelle Autobiographien präsentieren sich in geschlossener Form. Ein Buch beinhaltet "das Leben" oder einen Lebensabschnitt eines Autors und wird als "seine Autobiographie" identifiziert. Im Falle von Guiberts autobiographischem Projekt ist diese Identifikation nicht so eindeutig möglich. Verschiedene Werke unterschiedlicher Gattungen, zum Teil kurz nach einander veröffentlicht, ergänzen und überschneiden sich; der eigentümliche Platz zwischen Fiktion und Dokumentation einiger Werke und die fehlende explizite Kennzeichnung der Werke als "Autobiographie" erlauben keine direkte Zuordnung. Daher stellt sich die Frage: Kann im Zusammenhang von Guiberts Projekt der Selbstenthüllung überhaupt von Autobiographie gesprochen werden und wenn ja, worin besteht dann die Darstellung der Selbstinterpretation?
In den erzählenden Werken, die als Teil des Projektes betrachtet werden können, setzt Guibert außer der Signatur alle Mittel ein, um eine autobiographische Lesart vorzugeben. Der Protagonist dieser Bücher, der gleichzeitig der Ich-Erzähler ist, heißt Hervé Guibert und erweist sich in den äußeren Merkmalen als mit dem Autor identisch zumindest bis zu dem Punkt in "Das Paradies" wo diese Identität bewußt zerstört wird. Reflexionen des Schreibprozesses und explizite Erklärungen des dokumentarischen Charakters wie: "Mir selbst gegenüber nämlich bin jedesmal der Voyeur, der Dokumentarist."17sollen den Leser überzeugen, ein Werk der Autobiographie, nicht der Fiktion vor sich zu haben.
Auch nahezu alle Essays des Bandes "Phantom-Bild" sind in der ersten Person Singular verfasst. Der erste Text "Gedankenlesebrillen" gibt dabei eine autobiographische Lesart der folgenden vor. Guibert schildert die Wirkung der Gedankenlesebrillen aus einem Comic und der Röntgenbrillen aus der Reklame obskurer Versandhäuser auf ihn: "Und ich stelle mir vor, die Photographie könnte die beiden Fähigkeiten miteinander verknüpfen; ich spürte den Reiz zu einem Selbstporträt"18Im Licht dieses Textes erscheinen die folgenden Texte als derartige Selbstporträts. Die kurze Form und die Zentrierung auf jeweils einen Aspekt geben ihnen dabei den Charakter mentaler Momentaufnahmen.
Autobiographischen Status hat auch der überwiegende Teil seiner Photographien: Neben vielen Selbstporträts findet sich in ihnen ein Teil des übrigen Personals seines literarischen Werkes wieder: die Eltern, die Liebhaber T. und Vincent sowie seine Großtanten Suzanne und Louise, denen er einen eigenen Fotoband widmete19. Der Videofilm "La Pudeur ou L'Impudeur" dokumentiert die letzten Phase seines Lebens nachdem Ausbruch von Aids.
Hervé Guibert: Selbstporträt mit Suzanne und Louise (1979)
Die einzelnen Teile seines Projekts der Selbstenthüllung zeigen alle deutlich autobiographischen Charakter, dennoch scheint keines isoliert betrachtet eine Autobiographie darzustellen. Jedem einzelnen Teil fehlen die Elemente, aus denen sich eine Selbstinterpretation erkennen ließe. Dies läßt sich am besten im Vorgriff auf die Analyse Guiberts literarischer Technik durch das dieser zugrundeliegende fotografische Konzept erklären. Guiberts Erzähltechnik ist durch einen Verzicht auf Narration gezeichnet. Die einzelnen Kapitel sind nicht durch die explizite Schilderung von Entwicklungen sondern durch das Prinzip der Identifikation verbunden. Jeder Abschnitt repräsentiert dabei gewissermaßen eine Momentaufnahme, und eine Entwicklung wird nur dadurch sichtbar, daß die einzelnen Personen des Geschehens in den folgenden Kapiteln wiedererkannt werden.
Nach dem gleichen Prinzip verbinden sich die Teile des autobiographischen Projektes: Da die verschiedenen Motive in den einzelnen Werken wiederkehren, werden erst in der gemeinsamen Betrachtung die Zusammenhänge und Entwicklungen offenbar, erhalten die einzelnen Teile erst ihren vollen Gehalt. Wenn man anhand der erzählenden Prosa den Personen seiner fotografischen Porträts ihre Bedeutung für Guiberts zuordnen kann und daraus die jeweiligen Fotos ihre Bedeutung erhalten, scheint dieser Aspekt noch trivial. Es liegt in der Natur der Fotografie, daß die Bedeutung jedes Bildes sich in erster Linie aus dem Hintergrundwissen des Betrachters ergibt. Bemerkenswert hingegen ist Guiberts Adaption dieser Tatsache als autobiographische Technik: In der Gesamtschau über die einzelnen Teile wird seine Selbstinterpretation sichtbar, aus dem Dokumentaristen seiner selbst der Autobiograph.
Den Hinweis darauf, daß in seiner Selbstenthüllung die Autobiographie nicht an der Oberfläche liegt, sondern erst durch Bemühungen des Lesers in der Gesamtschau zu finden ist, gibt Guibert, wenn er schreibt, daß er sich fühle "[...] wie der Pharao, der die Ausstattung seines Grabes vorbereitet, mit seinem vervielfachten Abbild, das den Zugang markieren oder ihn im Gegenteil durch Abwege, durch Lügen und falsche Vorspiegelungen verkomplizieren wird."20Betrachtet man das Grab als Guiberts Metapher für die Autobiographie, in der das Leben zu Kunst erstarrt, so kann man als die entscheidenden Markierungen "Phantom-Bild" und "Das Paradies" benennen. Zum gewissermaßen pharaonischen Verwirrspiel gehört, daß die Schlüssel der autobiographischen Selbstinterpretation an unvermuteter Stelle versteckt sind: in seinem Buch über Fotografie "Phantom-Bild", wo Guibert seine Vorstellung von Wahrheit erläutert und im fiktiven Teil von "Das Paradies" wo er seine Vorstellung von der Identität des Subjektes darstellt.
Die abgeschlossene Form traditioneller Autobiographien widerspricht der Form des Lebens. Die in literarischer Form geronnene Selbstinterpretation impliziert das Ende einer Entwicklung des Subjekts und somit gleichsam seinen Tod.21Guibert der von sich behauptet: "Ich feilsche gern, das ist Leben. Alles im Leben ist Feilschen. Der Tod ist die Einigung."22vermeidet die Implikation des Stillstands des Subjekts in seinem autobiographischem Projekt, indem die einzelnen Werke auf eine abgeschlossene Selbstinterpretation verzichten nur autobiographische Dokumente darstellen. Daß dennoch das autobiographische Netz der einzelnen Dokumente seine Autobiographie darstellen kann, d.h. daß sich im Gesamtblick der Eindruck einer abgeschlossenen Selbstinterpretation einstellt, ist durch die besondere Umstände seines Todes bedingt.
Guibert wußte seit 1988 von seiner HIV-Infektion. Nach Ausbruch der Krankheit wurde der virale Status für ihn zum Indiz seiner verbleibende Lebenspanne. Da er zudem wie in "Dem Freund" geschildert, plante, daß finale Stadium des Siechtums durch Selbstmord zu vermeiden, wurde der Zeitpunkt seines Todes in gewissen Grenzen vorhersehbar. Daß Guibert 1989 die Lebensgefährtin "C." seines langjährigen bisexuellen Liebhabers "T." heiratet, um sein Erbe den Kindern des Paares zukommen zu lassen, zeigt, wie er für seinen Tod lebenspraktische Vorsorge trifft. Auch in literarischer Beziehung scheint er sich auf sein Ableben vorbereitet zu haben. Zumindest kann die kryptische Aussage, Aids bilde ein "Paradigma" in seinem "Projekt der Selbstenthüllung"23nach der Lektüre seines letzten Werkes "Das Paradies" dahingehend verstanden werden, daß er wegen seines absehbaren Todes plane eine gewisse Form von Abschluß in dieses Projekt zu bringen.24Auch ohne diesen derart zu interpretieren, erweist sich "Das Paradies" als entscheidender Baustein, der aus dem "Projekt der Selbstenthüllung" erst eine Autobiographie im vollen Sinn der dieser Arbeit zugrundeliegenden Definition macht.