" Das Paradies" als Schlüssel zur Autobiographie
Das Paradies zeigt sich insofern als Schlüssel zu Guiberts autobiographischem Projekt, als daß der Autor in ihm die der Zerstörung der Vorstellungen von der Identität des Subjektes, von dessen Authentizität sowie der Authentizität der Fotografie betreibt und so die seinem Projekt zugrundeliegende Konzeption enthüllt. Die genannten Vorstellungen sind getragen von dem Wunsch nach Eindeutigkeit, von der Guibert bereits in Mitleidsprotokoll erklärte, daß sie der Tod sei.25Eindeutigkeit meint in diesem Zusammenhang Widerspruchsfreiheit. Guiberts Mittel zur Zerstörung dieser Vorstellungen liegt darin, sie ins Paradoxe überführen.
Neben der bereits zitierten Aussage, Guibert habe sich in ein schizophrenes Wesen verdoppelt,26dient die fiktive Kriminalgeschichte, die den Schwerpunkt des Buches ausmacht, dazu, die Vorstellung der Identität der Person ad absurdum zu führen. Zum einen geschieht dies, indem die Erwartungshaltung der mit Guibert vertrauten Leser gründlich verstört wird: Der vermeintlich bekannte schwule französische Protagonist Guibert tritt hier als heterosexueller Schweizer in Erscheinung. Die Verwirrung des Lesers wird dabei von den Nebenfiguren des Textes reflektiert. So während einer Polizeikontrolle: "Die Bullen fragten mich: Und woher haben Sie jetzt einen Schweizer Paß?» Ich antwortete: Wieso sollte man keinen Schweizer Paß haben, wenn man Schweizer ist.»"27
Dann jedoch bricht Realität oder zumindest die Realität des vertrauten Guibert-Protagonisten in die Erzählung ein: der Tod seiner Großtante Suzanne28und die Erfahrungen während der Krankenhausaufenthalte in Folge seiner Aids-Erkrankung. Schließlich erleidet der Ich-Erzähler ein bei entwickeltem Vollbild von Aids, das Stadium in dem sich Guibert befand, als er "Das Paradies" verfasste, nicht seltenes Phänomen einen temporären Gedächtnisverlust. Er versucht sein Leben zu rekonstruieren: "Ich erinnere mich an meine Bücher, sie sind das einzige, an das ich mich genau erinnere. Doch wie ordnet man ein Buch? Wie datiert man es?"29Durch den Verlust der Erinnerung gleichsam von seiner eigenen Person getrennt, kann er sich nur noch in seinem literarischen Selbstbild wiederfinden. Aber auch dieses erlaubt keine Rekonstruktion seiner Identität.
Der zweite Weg, auf dem Guibert in "Das Paradies" die Vorstellung einer Identität des Subjektes zerstört, ist die Geschichte der Freundin des fiktiven Protagonisten. Nachdem die ehemalige Meisterschwimmerin "Jayne Heinz"30ausgerechnet bei einem Badeunfall ums Leben kommt, entdeckt der Protagonist beim Regeln des Todesfalles zunehmend Merkwürdiges: Ihre Notizbücher sind leer, die CDs, die sie hörte, unbespielt, ihr Paß unauffindbar. Schließlich: "Es gibt keine Jayne Heinz. [...] Weder im zwanzigsten Jahrhundert noch im neunzehnten, es hat nie eine Jayne Heinz gegeben."31Der Ich-Erzähler muß erkennen, daß die Person an seiner Seite nicht existent ist. Ihre Identität ist Fiktion, entsprang nur seiner Interpretation ihres Handelns.
Auch wenn das Motiv der Auflösung einer Person Guiberts körperlichem und geistigen Zustand nach dem Fortschreiten von Aids entspricht, verweist die Geschichte der Jayne Heinz als Allegorie auf das vom Autor in "Das Paradies" betriebene Verwirrspiel um seine Identität, so wie beide auf Guiberts Vorstellung des Subjektes. Angesichts seiner Freundschaften zu Roland Barthes und Michel Foucault nicht überraschend, drückt sich in "Das Paradies" die Vorstellung aus, daß die Identität einer Person erst in der Interpretation konstituiert wird. Wenn sich die Person überhaupt irgendwo greifbar manifestiert, so in ihrem Werk. Jedoch kann nicht einmal der Protagonist stellvertretend für den Autor Guibert aus seinen Büchern sein Leben rekonstruieren.
Zudem ist der Authentizität des Werkes nicht zu trauen, wie Guibert vorführt, indem er mit der derselben Technik wie in "Der Freund" und "Mitleidsprotokoll" Authentizität erzeugt und den Leser über die Identität des Protagonisten in die Irre führt. Die vermeintliche Authentizität der Fotografie ist ebenso ein Werk der Interpretation. Guibert demonstriert dies im letzten Kapitel von "Das Paradies" anhand eines Paradoxons: "Ich sehe Fotos von Afrika an, und ich sehe genau, daß es Afrika nicht gibt."32Ebenso widersprüchlich wie die Figur, daß die Beweiskraft der Fotografie die Nichtexistenz des Fotografierten beweist, ist die Aussage: "Bei meiner Rückkehr aus Mali hatte ich zu begreifen vermeint, der Mensch sei nichts und niemand. Und ebensogut hätte ich sagen können, er sei alles."33
Aus den finalen Paradoxa wie aus der paradoxen Struktur des Buches insgesamt, kann auf Guiberts Sicht der Wirklichkeit geschlossen werden. Die Wirklichkeit ist für Guibert voller Widersprüche und kann nicht in einer notwendig eindeutigen "Eindeutigkeit ist der Tod" rationalen Beschreibung erfaßt werden. Dies gilt insbesondere für das Subjekt. Aufgrund seiner Komplexität und inneren Widersprüche ist die Wahrheit des Subjektes ihm selbst nicht zugänglich. Wenn überhaupt kann sie in seinem Werk gefunden werden. In diesem Sinne existiert das Subjekt nur durch das Werk, obwohl es sich seiner Existenz unabhängig vom Werk durchaus bewußt ist.34
Guiberts Selbstinterpretation ist somit primär eine Interpretation des Phänomens der Subjektivität, weniger eine des eigenen Selbst.35Die Untersuchung von Guiberts Vorstellung der Wahrheit vorwegnehmend ist festzuhalten: Die angemessene Form der Selbstdarstellung ist für Guibert die des Selbstbildes, welches sich aus den autobiographischen Dokumenten des Projektes der Selbstenthüllung ergibt und wobei die Fotografie die Struktur des literarischen Selbstbildes bestimmt.