"Mein Körper war vom Lichtnicht errettet worden, wie ich gehofft hatte, im Gegenteil, das Licht hatte mit Hilfe des Photoapparates die gesamte Substanz des Realen festgehalten."
Hervé Guibert: "Über eine geläufige Manipulation."36
Guiberts fotografische Bilder
Die Bedeutung der Fotografie für Guiberts Leben spiegelt sich in seinem Werk. Das Medium Fotografie bestimmt die Struktur, den zugrundeliegenden liegenden Begriff von Wahrheit und dominiert einen Teil des Inhaltes. Guibert veröffentlicht Fotografien und sie erscheint in seinem literarischen Werk. Fotografie ist dabei nicht nur in "Phantom-Bild" Thema als auch Quelle für Metaphern. Aus Guiberts Umgang mit der Fotografie lassen sich wichtige Hinweise darauf gewinnen, wie sie in die Struktur seines autobiographischen Projektes eingeht und wie er dem Medium die Mittel, Authentizität zu erzeugen, entnimmt.
Als Produzent von Fotografien "blieb Guibert" trotz seiner Bildbände und Ausstellungen "ganz bewußt Amateur."37Dies gilt für seine fotografische Technik wie für die Auswahl seiner Motive. Guibert folgt seiner eigenen Empfehlung, nur das Vertraute zu fotografieren,38und daher zeigen seine Bilder außer seiner Person, seine Freunde und Verwandte, die Umgebungen, in denen er sich aufhielt. Daß sich unter den wenigen Fotos, die als Ausnahmen von dieser Regel Prominente abbilden, ein Bild von Henri Cartier-Bresson befindet, verweist auf Guiberts fotografische Technik, die sich am Vorbild Cartier-Bresson orientiert.
Der fotografische Beobachter stellt immer eine Störung der Situation dar mit den Worten Susan Sontags: "Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun"39Guibert versucht, diese Störung möglichst klein zu halten. Er bedient sich einer gleichsam mikroinvasiven Methode der Fotografie. Sein Werkzeug ist eine "Rollei 35", eine kleine, unauffällige Sucherkamera, deren Objektiv keine verzerrte Perspektive erlaubt. Es ist eine Kamera, die für eine authentisch geltende Fotografie in der Tradition Cartier-Bressons steht. Guibert formuliert sein fotografisches Programm, indem er über seinen Fotoapparat sagt: "Er stellt mit den Leuten, die man photographiert, nicht diese seriöse, professionelle und rentable Beziehung her."40Daß Guibert sich überhaupt zu seiner Kamera äußert, ist ebenso wie diese Aussage allerdings auch als ein Mittel zur Erzeugung bzw. Beglaubigung von Authentizität zu verstehen sowohl der seiner Fotos als auch der seiner Texte.
Hervé Guibert: Vincent (1988)
Sein fotografischer Stil bedient sich der Mittel, die den Eindruck des Wahrheitsgehaltes der Bilder unterstützen: unprätentiöse Fotografien in Schwarzweiß. Die Authentizität ist jedoch immer inszeniert. Seine Modelle posieren erkennbar für die Kamera, wenn auch in einer betont uninszenierten Umgebung und seine Alltagsstilleben aus der privaten Umgebung wirken viel zu präzise, als daß sie so vorgefunden sein dürften. Am aufschlußreichsten für sein autobiographisches Projekt sind die Selbstporträts.
Hervé Guibert: Selbstportrait (1988)
Die meisten dieser Selbstbildnisse zeigen drei auffällige Stilmittel: Ein Teil des Gesichtes wird durch einen Gegenstand oder einen Schatten verdeckt, die Bilder weisen eine gewisse Unschärfe auf und oft ist der Fotoapparat zumindest verschwommen oder schemenhaft im Bild zu erkennen. Um sie zu bloßen Nebeneffekte des Versuchs, sich ohne Verwendung eines Stativs zu fotografieren, tauchen diese Stilmittel zu häufig auf und erscheint die Lage der Schatten zu wenig zufällig. Vielmehr verweisen die Fotos auf die Grundlagen des Projekts der Selbstenthüllung. Zum einen sind alle drei Stilmittel Teil einer Inszenierung der Authentizität, zum anderen visualisieren Unschärfe und Abschattung des Gesichtes, daß das Subjekt trotz seiner Enthüllung nie ganz zu erkennen ist. Die Reflexion des Darstellungsprozesses in der Darstellung schließlich ist nicht nur für Hervé Guibert ein häufiges Mittel, die Authentizität der Darstellung zu beglaubigen.