Fotografie als Inhalt und Metapher
Wird Fotografie zum Inhalt von Guiberts Texten, beschäftigen ihn dabei zumeist die Komplexe Bild und Begehren, das Verhältnis von Person und Bild letzteres wird weiter unten41genauer untersucht der Objektcharakter von Fotografien sowie die Beziehung des Mediums zum Tod. Fotografie kann ein Mittel sein, um "[...] mit einer anderen Wirklichkeit Fühlung aufzunehmen,"42für Hervé Guibert war sie das Mittel, um mit der Wirklichkeit, die jenseits des von seinen Eltern definierten Horizontes aus Moral und Anstand liegt, in Kontakt zu treten: der Welt des Begehrens.
Guibert schildert,43wie er in seiner Jugend durch Fotografien von Schauspielern seine Sexualität entdeckte und auslebte. Die so entstandene intensive Bindung zwischen Bild und Begehren mag einer der Gründe sein, warum Fotografie in Guiberts Leben eine große Bedeutung hatte. Jedenfalls macht diese Verbindung für ich die Natur des Mediums aus: "Wie soll man von der Photographie sprechen, ohne von der Lust zu sprechen? [...] das Bild ist das Wesen der Lust [...]."44
Weil die Fotografie eine direktere Repräsentanz als andere Formen der bildlichen Darstellung herstellt, eignet sie sich besonders als Medium des Begehrens. Die auf einem Foto abgebildete Person hat mit dem Foto gewissermaßen ihre Spur hinterlassen, das Foto ist Beweis ihrer Existenz. Guibert macht dabei den Unterschied zwischen erotischem und pornographischen Bild an der Mehrdeutigkeit des erotischen fest: "Der Körper auf dem erotischen Bild ein manipulierbarer Körper [...],"45läßt Raum für die eigenen Phantasien, während das pornographische Bild eindeutig ist. Guiberts Präferenz auch als Mittel der Pornographie gilt dem erotischem Bild: "Ich kann mich mit dem pornographischen Körper nicht befriedigen [...]."46Guiberts Diskussion des Verhältnisses von Pornographie und Erotik ist kennzeichnend für sein gesamtes autobiographisches Projekt. Er führt sie anhand der eigenen Nutzung von Pornographie und zeigt sich dabei seinem Grundsatz der Selbstenthüllung auch im übertragenen Sinne treu. Er beharrt auf Mehrdeutigkeit, darauf, daß das Bild erst in der Phantasie des Betrachters vollständig wird. Das gilt auch für das Bild seiner Person: trotz Selbstenthüllung ist er daher nicht wirklich zu erkennen.
Eine Motivation dieses Vorgehens, ist die Angst vor der Reduktion die Individualität der Person liegt in der Verschiedenartigkeit der Aspekte, die in ihr vereint sind. Wie jede Autobiographie ist auch die Hervé Guiberts durch den Wunsch, die eigene Individualität zu manifestieren, motiviert. Die Individualität des Begehrens soll dokumentiert werden, jedoch: "Und dann könnte ich mich schwarzärgern, wenn ich meine Phantasien in pornographischen Zeitschriften wiederfinde: meine Phantasien sind also Gebrauchsmuster, vorgeschriebene dazu und das bestimmt schon seit Jahrhunderten. Ich reproduziere sie bloß, ich entgehe diesem Konformismus der Lust nicht."47
Den breiten Raum und die Detailtiefe, mit der Guibert seine Sexualität schildert, sind auch als Komponenten zweier Emanzipationsprozesse zu erklären. Die eigene Homosexualität zu thematisieren, ist Bedingung dafür, der gesellschaftlichen Diskriminierung entgegentreten zu können. Indem Guibert dies tut, emanzipiert er sich gleichzeitig von seinen Eltern, die das Öffentlichwerden der Homosexualität ihres Sohnes verhindern wollen. So versucht sein Vater mit der Behauptung, man wolle ihn mit der Homosexualität seines Sohnes erpressen, diesen zur Unterdrückung seines Begehrens zu bewegen.48Jedes von Guibert enthüllte sexuelle Detail ist somit auch eine Demonstration der Unabhängigkeit von seinen Eltern und der Verachtung für sie. Daher ist insbesondere "Mes Parents" von den Schilderungen seines Begehrens durchzogen.
Wie der Konsum von Fotos ist auch ihre Produktion für Guibert mit dem Begehren verknüpft. Die Fotografie eines Menschen verwandelt ihn in ein Objekt, über das sein Besitzer risikolos verfügen kann. Erfüllt sich der Wunsch des Begehrens nicht am realen Objekt, so kann er an dessen Fotografie nachvollzogen werden. Fotografieren ist daher für Guibert ebenso eine Form des Ausdrucks des Begehrens wie der Herstellung von Objekten, an denen es sich ersatzweise erfüllen kann. "Man begehrt ein Objekt und der Einsatz ist lächerlich [...]49" lautet die Devise, nach der Guibert sich fotografisch einen Repräsentanten des begehrten Objektes schafft. Das Fotografieren ist dabei ebenso eine Form, Intimität herzustellen, wie Macht über eine Person zu bekommen: "[...] indem ich das Photo von dir mache, binde ich dich an mich, wenn ich es will, ich laß dich in mein Leben eintreten, ich verschmelze ein wenig mit dir, und du kannst nichts dagegen machen"50
Wie das Motiv des Begehrens durchzieht auch Guiberts Faszination am Tod sein Werk und wird in Verbindung zur Fotografie gebracht. Fotografien verweisen implizit auf den Tod, weil sie einen bestimmten Zustand eines Menschen konservieren, während er selbst altert. Beim Betrachten von Urlaubsfotos und Filmen ist der "Diskurs" bei Familie Guibert daher "angsterfüllt und von Todesgedanken getragen [...]."51Fotografie erinnert an den eigenen Tod, ist für Guibert aber gleichzeitig Mittel seiner Überwindung durch das sein Modell überdauernde Bild. Das Bestimmen seines posthumen Bildes auch vor dem Wissen um seine HIV-Infektion ist ein von Guibert immer thematisiertes Anliegen: Mit einem Paßbild, von dem garantiert wird, "daß es auf zwanzig Jahre unzerstörbar und unveränderlich sei,"52bestellt er sich sein "Bildmedaillon fürs Grab."53Als Guibert dieses Aussage veröffentlicht, ist er noch nicht einmal 25 Jahre alt und Aids noch unbekannt.
Daß er in "Dem Freund" über sein posthumes Bild nachdenkt,54erscheint in Anbetracht des nahenden Todes verständlich. Für einen Mann Mitte Zwanzig ist die Sorge um das Erscheinen vor den Augen der Nachwelt jedoch ungewöhnlich. Diese Tatsache belegt, wie stark Guiberts autobiographisches Projekt durch den Wunsch, die Kontrolle über das eigene Bild zu behalten, motiviert ist. Dieses Anliegen wird verständlicher, wenn man Guiberts Vorstellung der Wahrheit betrachtet55und die Funktion von fotografischen Bildern in seinem Leben berücksichtigt.
Hervé Guibert ist vom Objektcharakter der Fotografien fasziniert. Schon als er seine Sexualität anhand von Fotografien entdeckt, werden diese zum Ersatz realer Partner: "Wenn ich mich abends schlafe lege, verkrieche ich mich tief ins Bett, um den Körpern auf dem Bild einen Platz zu lassen, und unter meiner Bettdecke rede ich zu ihnen"56In dem Text "Das krebskranke Bild"57verbindet er die Motive des Begehrens und des Todes mit dem Objektcharakter von Fotografien. Zumeist interessiert das Foto als Gegenstand nicht, vielmehr liegt das Augenmerk auf der abgebildeten Realität. Mittels der Fotografie wird eine Verbindung zwischen der betrachteten Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Betrachters geschaffen, aber die beiden Realitäten durchdringen sich nicht. Die abgebildete Wirklichkeit ist unveränderlich.
In "Das krebskranke Bild" beginnen beide Realitäten miteinander in Wechselwirkung zu treten. Der Ich-Erzähler berichtet das Schicksal des Fotos eines Unbekannten, das er einem mittlerweile verschwundenen Freund entwendet hat. Da er keinerlei Informationen über den Abgebildeten besitzt, eignet sich das Foto als Projektionsfläche romantischer Phantasien er malt sich die Geschichte des Unbekannten aus: "Vielleicht war er tot, ich konnte ihn mir jedenfalls auch sehr heruntergekommen vorstellen [...]."58Plötzlich scheint das Foto zum Leben zu erwachen, der Leim der Kartonierung schlägt durch und beginnt das Bild zu zersetzen: "Das Bild hatte Krebs; mein Freund war krank."59
In dem Text klingen Motive aus dem Pygmalion-Mythos und Oscar Wildes "The Picture of Dorian Gray" an, im Gegensatz zu diesen findet die Geschichte jedoch einen glücklichen Ausgang. Der Erzähler heftet das Bild mit Klebestreifen an seinen Bauch. Sein Schweiß löst es ab, und läßt das negative, unversehrte Bild auf dem Bauch zurück. In der so vollzogenen Vereinigung mit dem Begehrten wurde das Begehren befriedigt.
Das Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit wird in diesem Text umgedreht: Nicht das Bild läßt den Körper seinen Verfall überdauern, sondern der Körpers des Ich-Erzählers rettet das Bild vor dem Verfall. Zumindest in Guiberts Vorstellung gibt es keine Trennung zwischen der Realität und der Realität des fotografischen Abbilds. Oft erscheint daher in seinem Werk das Bild als die eigentliche Wirklichkeit wie der Autor selbst scheinbar erst durch die autobiographische Verdopplung Realität erhält.
Ein Nebenaspekt der Beziehung zwischen seinem Interesse an der Fotografie und Guiberts literarischen Werk soll nicht unerwähnt bleiben. Wie bei jedem Autor ist auch für Hervé Guibert die eigene Lebenswelt eine wichtige Quelle seiner Metaphern. Fotografie ist daher ein Bereich, dem er seine sprachlichen Bilder entnimmt. So wenn er über einen Arzt sagt: "[...] er hat sich gegenüber der Wahrheit eine Durchschaubarkeit von einer 125stel Sekunde bewahrt, wie sich die Fotoblende öffnet, um das Licht aufzunehmen, bevor sie sich wieder schließt, um die Konserve reifen zu lassen."60
Bei einem so stark wie Guibert an Fotografie interessierten Autor, kann das Auftreten fotografischer Metaphern nicht überraschen. Sie sind Ausdruck einen Beziehung zwischen Fotografie und literarischem Schaffen, die ungleich tiefer geht.