Authentizität I: "Die photographische Schrift"
Guibert greift dabei zu den Mitteln der Reflexion des Schreibprozesses, der Verbindung des Werkes zu den überprüfbaren Fakten der Realität, des Verweises der einzelnen Teile des autobiographischen Projektes untereinander und zu einem den Eindruck der Unmittelbarkeit erzeugenden Stil. Seine Handhabung dieser Mittel ist jedoch immer ambivalent: auf verschiedene Weise relativiert er sie wieder; warnt davor, der zur Schau gestellten Aufrichtigkeit zu trauen.
Wenn Guibert versichert, sein Werk bestünde bis auf einige "Ausrutscher in die Fiktion"63aus Autobiographie, wenn er darüber nachdenkt, daß: "kein Buch ohne unerwartete Struktur, die von den Unwägbarkeiten des Schreibens gezeichnet wird"64sei, dann streut er damit Hinweise seiner Ehrlichkeit. Dem Leser wird das Vertrauen des Autors signalisiert, wenn dieser ihm Einblick in den intimen Prozeß des Schreibens gewährt. Der explizite Hinweis auf die Differenz zwischen Leben und Literatur soll demonstrieren, daß Guibert seine Leser ernst nimmt gleichzeitig wird durch diesen Hinweis jedoch auch der Horizont einer fiktiven Lesart eröffnet. Es sind die "Unwägbarkeiten des Schreibens", d.h. die Bedingungen der Gestaltung, die das Werk prägen.
Als Indiz der Wahrheit dient der Verweis auf die äußere Wirklichkeit. Überprüfbare Fakten, wie das Datum seiner Geburt,65den Erhalt des "César",66und nicht zu überprüfende Fakten, wie das Datum, an dem eine Seite geschrieben wird,67sollen zwischen Werk und Wirklichkeit eine Authentizitätsbeziehung herstellen. Jedoch treibt Guibert mit dieser Form der Relation zur Realität sein Spiel: Auf Seite 55 von "Dem Freund" erfährt der Leser, daß Guibert erwägt die "fünfundfünzig schon beschriebenen Blätter zu löschen,"68wodurch auf geradezu absurde Weise es ist höchst unwahrscheinlich, daß die Paginierung des Buches sich mit den Blättern des Manuskriptes deckt dem Rezipienten ein in seiner Wirklichkeit überprüfbares Faktum an die Hand gegeben wird. Die Plakativität des Beweises entwertet ihn und verweist auf sein Gegenteil: dem Offensichtlichen darf nicht getraut werden.
Der Verbindung zur Wirklichkeit dient auch die Verbindung der Werke untereinander: Indem Ereignisse in verschiedenen Büchern auftauchen, werden Konsistenz und eine äußerliche Form der Kontinuität in die Autobiographie gebracht. Eine ausgezeichnete Position nehmen dabei die Fotografien ein. Personen, Orte und Gegenstände der Literatur sind auf ihnen wiederzuerkennen: die Großtanten, "T.", sein Zimmer mit der aufgehängten "Röntgenaufnahme" aus dem gleichnamigen Text,69das Kuschelschaf seiner Kindheit. Die Fotografien scheinen die Existenz der Menschen und Objekte zu beweisen. Dieser Beweis ist wie jeder fotografische aber nur ein scheinbarer: Über die Bildunterschrift werden die Fotos in das autobiographische Netz eingeordnet die Verknüpfung zwischen den Bildern und den Informationen der Prosa entsteht im Geist des Betrachters, der auf Guiberts Aufrichtigkeit vertrauen muß. Mehr als Indizien der Konsistenz der einzelnen Bestandteile des autobiographischen Projektes untereinander können die Bilder daher nicht darstellen.
Dem "authentischen" Stil seiner Fotografien entspricht der Stil von Guiberts literarischem Werk. In seinem Text "Die photographische Schrift"70reflektiert er am Beispiel von Goethes "Italienischer Reise" und Kafkas Tagebüchern, welche Schreibweisen den Eindruck einer "photographischen Unmittelbarkeit"71erzeugen. Wichtigstes Merkmal eines derartigen Stils ist Linearität, die sich im Verzicht ausdrückt dem Verzicht auf komplexe Satzkonstruktion ebenso wie dem Verzicht auf verschachtelte Reflexionen und Verweise. Die Wahrnehmung wird scheinbar ohne Zeitverzögerung zu Papier gebracht: "Es ist die am wenigsten zurückliegende Spur des Gedächtnis, ja, von Gedächtnis kann kaum die Rede sein: wie etwas, das auf der Retina noch zu vibrieren scheint, ein Eindruck, beinahe ein Schnappschuß."72Diese Wirkung versucht auch Guibert in seinen Schriften zu erzielen: "Ich mag es, wenn es so direkt wie möglich zwischen meinem Denken und ihrem hin und her geht, wenn der Stil die Transfusion nicht behindert."73
Guiberts Beschreibung der "photographischen Schrift" kennzeichnet seinen Stil: Kurze Sätze oder aneinandergereihte Teilsätze ohne komplexe Bezüge untereinander schaffen den Eindruck einer unmittelbaren Dynamik. Diese Struktur, die einzelnen Sätze zu komponieren und anzuordnen, wiederholt sich auf Kapitelebene. Die einzelnen Kapitel sind nicht durch explizite Verknüpfung, sondern durch das Prinzip der Ähnlichkeit aufeinander bezogen: "Auch als Schriftsteller sucht er Momentaufnahmen, aus deren Aneinanderreihung Kontinuität entsteht. Es sind fragmentarische Bilder und Wahrnehmungen, die unvergeßliche Eindrücke hinterlassen."74Greift man die Metapher von den Momentaufnahmen auf, so kann man sagen, daß seine einzelnen Werke wie Fotoalben wirken, Sammlungen fragmentarischer Wiedergabe reiner Gegenwärtigkeit.
Hierin liegt auch der Grund, warum jedes Buch Guiberts für sich eher wie ein autobiographisches Dokument als wie eine Autobiographie wirkt. Wie in den theoretischen Überlegungen zur Autobiographie diskutiert, ist die "Tagebuchform" der Autobiographie weitgehend inkompatibel, insofern sie immer nur die Authentizität des Augenblicks präsentiert, jedoch nicht Gegenwart und Vergangenheit in der Selbstinterpretation der Autobiographie vereinigen kann. Diese Vereinigung muß im Falle Guiberts durch den Leser geleistet werden, der die verstreuten Hinweise zu den Grundlagen des Projektes zusammensetzt.
Der authentische Eindruck der "photographischen Schrift" darf dabei nicht als Beweis der Authentizität gewertet werden. Guibert weist darauf hin, daß Goethe die "Italienische Reise" aus seinen Tagebüchern komponierte, die Notwendigkeit einer nachträglichen Bearbeitung der Notizen von Anfang an einkalkulierend. Und über sein eigenes Schreiben sagt er: "Wenn das, was ich schreibe Tagebuchform annimmt, dann habe ich am stärksten den Eindruck, es sei Fiktion."75Die Inszenierung der Unmittelbarkeit schlägt ins Gegenteil um: Unmittelbarkeit wird zum Indiz der Inszenierung und damit der Fiktion.