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Authentizität II: "Die Wahrheit der Schrift"

 

 

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Das Umschlagen zwischen Fiktion und Dokumentation beeinträchtigt nicht die Authentizität von Guiberts Schriften im Sinne der Darstellung seiner "inneren Wahrheit." Für Guiberts Werk gilt: "[...] es geht nur um die Wahrheit der Schrift."76Dies erläutert er am Verhältnis von Fotografie und Begehren: "[...] das Bild zu entsexualisieren, hieße es auf die Theorie zu reduzieren."77Daß er die Intention seines literarischen Werkes an der Fotografie darstellt, belegt wie auch für seine Prosa die Konzeption des Bildes das Paradigma bildet. Daher kann die grundlegende Vorstellung von Authentizität im Projekt der Selbstenthüllung an Guiberts Essays zum Thema Fotografie untersucht werden. Insbesondere erhellt sich dann, was unter der von ihm abgelehnten Reduktion auf Theorie zu verstehen ist.

Entscheidendes Kriterium für die Bewertung einer Fotografie stellt für Guibert die Erkennbarkeit der emotionalen Beteiligung des Fotografen dar. Daher seine Empfehlung: "Photographiere nur die Leute, die dir am nächsten stehen, deine Eltern, deine Geschwister, deine geliebte Freundin, denn die alten Gefühle bestimmen das Photo"78Die Formulierung "entsexualisieren" muß somit in einem erweiterten Sinne verstanden werden. Das Bild darf nicht von Emotionen gereinigt werden, denn eine Fotografie ist "gelungen", wenn sie "der Gefühlserinnerung einigermaßen getreu"79ist.

Authentizität der Darstellung bedeutet für Guibert Wiedergabe von Emotionen, dem dient auch sein Stil der "photographischen Schrift." Da seine Texte gleichsam literarische Momentaufnahmen darstellen sollen, kann ein Text ein Bild ersetzen, weshalb insbesondere der Band über Fotografie "Photographische Phantasiegebilde"80und ein "Phantom-Bild"81 enthält. Der Text ist dabei unter Umständen für Guibert authentischer, als es das nicht gemachte Foto sein könnte, denn: "Das Bild läge vor mir [...], irreal, noch unwirklicher als ein Jugendphoto: als Beweisstück."82Der unveränderliche Beweis des fotografischen Bildes ist auf Dauer stärker als die Erinnerung und droht, diese zu verdrängen.

Die Emotionen machen das Leben der Person aus, daher läßt sich Guiberts autobiographische Technik als die Transformation seines Lebens in fotografische und literarische Bilder beschreiben. Aus der Gesamtheit dieser Bilder resultiert sein "posthumes Bild" dessen Definition, wie erwähnt, als das Ziel seines autobiographischen Projektes anzusehen ist seine Autobiographie. Auch wenn Guibert als Parole der Selbstenthüllung "tout dire"83ausgibt und damit scheinbar Roussseau folgt, der sich "in aller Wahrheit"84zeigen wollte, werden im Vergleich beider die spezifischen Merkmale von Guiberts Projekt deutlich. Wie Rousseau kennt Guibert keine Zurückhaltung im Enthüllen intimer Details und spricht in diesem Sinne tatsächlich "alles" aus, jedoch verzichtet dabei er auf die explizite Erklärung der Zusammenhänge. Die innere Wahrheit Rousseaus ist dagegen theoretischer Natur: die Entwicklungen und Motive seines Handelns werden erklärt und damit im Sinne Guiberts auf Theorie reduziert.

Dem entspricht die Form von Zusammenhang in Guiberts Selbstbild, der nur durch ästhetische Prinzipien gestiftet wird. Guibert schildert die Festlegung seines eigenen "posthumen Bildes"85, in Analogie zu seinem Umgang mit Postkarten von Selbstporträts Rembrandts. Er besitzt acht dieser Karten, jedoch ist es unmöglich drei davon "[...] in eine Kontinuitätslinie zu stellen die anderen stießen sie unverzüglich ab."86So verfährt er auch mit seinen eigenen Selbstporträts: ein Teil wird vernichtet, die anderen nach einer "Chronologie, wie ich sie mir dachte,"87in einem Album angeordnet. Dementsprechend ist auch sein Projekt der Selbstenthüllung nicht rational strukturiert. Der Zusammenhang entsteht durch Verweise, durch das Prinzip der Identifikation.

Guiberts so entstehendes Selbstbild bleibt in einem grundlegenden Punkt widersprüchlich: der Frage der Authentizität des Gesagten. Zum einen erklärt sich dies durch das Konzept der Wahrheit der Schrift, das die Authentizität in der angemessenen Wiedergabe der Emotionen lokalisiert für die eine getreue Wiedergabe der Fakten unerheblich ist. Daher die Verbindung der autobiographischen Autor-Protagonisten-Identität mit dem Verzicht auf eine Signatur wodurch Raum für eine fiktive Lesart entsteht und die Mischung aus Fiktion und Autobiographie in "Das Paradies." Unter Umständen erweist sich die Fiktion als das geeignetere Mittel, die Authentizität der Wahrheit der Schrift herzustellen. Die Widersprüche der Wirklichkeit wie die inneren Widersprüche des Subjektes sollen für Guibert auch in seinem Selbstbild nicht auf Identität reduziert werden.

Zum anderen ist Guibert sich der Risiken, die im Verhältnis von Bild und Person lauern, bewußt: "Ich bin vierundzwanzig, aber in den Augen derer, die ich liebe, schmerzt mich mein Bild von früher schon fast, es ist unerträglich, ich bin geneigt es zu verbergen, ich fürchte, daß sie mein Bild lieben und daß es dabei bleibt."88Wie das fotografische Porträt vom Betrachter mit Bedeutung aufgeladen wird, so wird es auch das Bild Guiberts, das er mit seinem "Projekt der Selbstenthüllung" gibt. Die zugrundeliegende Selbstinterpretation, daß das Subjekt nur in den Fragmenten des Werkes angemessen repräsentiert wird, wird vom Rezipienten fast unweigerlich durch eine konkrete Interpretation der Person ersetzt auf Theorie reduziert. Die Zerstörung der Authentizitätsannahme in "Das Paradies" wie die Warnungen, seiner Aufrichtigkeit nicht zu trauen, sollen diesen Prozeß durcheinanderbringen. Guibert befürchtet, daß sein Bild die reale Person überdecken kann.89

Neben der Verwechslung von Bild und Person birgt das enthüllte Selbstbild ein weiteres Risiko, welches Guibert an der Fotografie aufgezeigt hat. In "Über eine geläufige Manipulation"90schildert er, wie ein Fotolaborant durch die Tricks der Entwicklung einem Aktbild Guiberts alle jene Details seines Körpers entlockt, die er durch Vernichtung anderer Negative der gleichen Serie zu verbergen suchte: "Die Wahrheit meines Körpers erschien langsam zwischen seinen Händen [...]."91Auch die sorgfältigste Auswahl dessen, was im autobiographischen Projekt enthüllt wird, kann nicht garantieren, daß Guibert mehr verrät, als er will.92Die Brechung der autobiographischen Authentizitätsannahme, wie sie Guibert betreibt, kann auch als Schutz vor zu weitgehender Selbstenthüllung betrachtet werden.

 

 

 


Guibert - Übersichtsseite
©1999 Bernd Neugebauer

 

 

(76) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 87.

(77) Ebd.

(78) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 93.

(79) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 24.

(80) Vgl.: Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 31, 86, 123.

(81) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 12ff.

(82) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 18.

(83) Guibert zit.n.: Jobst, .a.a.O., S.68.

(84) Rousseau, a.a.O., S. 37.

(85) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 64.

(86) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 63.

(87) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 66.

(88) Guibert: "Phantom-Bild." A.a.O., S. 30.

(89) Diese Angst erhält Nahrung durch Ereignisse, wie sie z.B. in "Dem Freund" geschildert werden. Mit einer neuen Frisur Guibert erhält Guibert Vorwürfe von Freunden und Bekannten "[...] sie bislang mit einer Persönlichkeit getäuscht zu haben, die nicht die meine war, eben mit jener, die sie geliebt hatten [...]." (a.a.O., S. 86.)

(90) Guibert: "Über eine geläufige Manipulation." A.a.O.

(91) Ebd. Vgl. auch das Motto auf S. 90 dieser Arbeit.

(92) Man könnte diese Untersuchung als Beleg dafür nehmen, daß diese Angst nicht unberechtigt ist
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