Liebes Tagebuch,… Folge 2: Die Weihnachtsansprache

Liebes Tagebuch,…

ich hatte „genau das Weihnachtsfest, wie ich es am liebsten mag.“ Es gab lecker Essen, Geschenke und gaaanz viele Süßigkeiten – die ich mit schlechtem Gewissen auch gleich alle vermümmelt habe. Denn Süßigkeiten machen dicke Kinder, und wenn es viele dicke Kinder gibt (sagt die Tante Schmidt – und hat bis zum September auch die Tante Künast gesagt) dann ist das ganz schlecht für die Volkswirtschaft. Dann werden die Krankenkassen gaaanz teuer und die Unternehmen müssen nach China auswandern, weil da die Lohnkosten so gering sind, dass die Chinesen schön schlank bleiben. Und außerdem werden dann die Soldaten so dick, dass sie den Hindukusch, an dem sie uns verteidigen sollen, gar nicht mehr hoch kommen.

Aber das Schönste an Weihnachten war natürlich die Ansprache vom Onkel Köhler. Der Onkel Köhler war früher mal Präsident vom Sparkassen- und Giroverband, und weil er das so toll gemacht hat, durfte er dann Direktor vom Weltwährungsfond, dem IWF, werden. Da war er so was Ähnliches wie Nikolaus: Die armen Länder kommen zum Fonds, und wenn sie ganz artig sind und ihre Wirtschaft so umbauen, wie das die Onkels beim IWF wollen, bekommen sie Geld geliehen. Und weil die armen Länder ja gar keine andere Wahl haben, sind sie auch meistens schön artig.

Beim Onkel Köhler war also früher immer Nikolaus und Weltspartag gleichzeitig. Aber dann hat die Tante Merkel einen Bundespräsidenten gebraucht. Den Herrn Schäuble mochte der Onkel Westerwelle nicht, der Onkel Stoiber wollte nicht, und da ist die Tante Merkel auf den Herrn Köhler gekommen, weil: Den kannten die meisten nicht. (Da musste selbst die Bild-Zeitung nachfragen: „Horst, wer…?“)

Aber jetzt ist der Onkel Köhler genau der Richtige für diesen Job – so viel wie er in der Welt schon herumgekommen ist. Letztes Jahr Weihnachten sollte er uns alle sogar von „Fatuma aus dem äthiopischen Hochland“ grüssen. Die Fatuma war nämlich ganz dankbar für die Spenden aus Deutschland. Denn die Afrikaner sind zwar alle viel ärmer aber dabei viel dankbarer als wir.

Deswegen findet der Onkel Köhler, dass wir uns daran mal ein Beispiel nehmen sollten: „Ein bisschen mehr Ehrlichkeit, Anständigkeit und Redlichkeit im täglichen Umgang können uns wirklich nicht schaden.“ Sauberkeit und Pünktlichkeit fehlten zwar in dieser Aufzählung, aber die denkt man sich ja eh’ gleich dazu.

Gut, dass wir einen wie den Onkel Köhler haben, der uns immer wieder mal sagt, wo es langgeht. Und uns auch immer wieder an das erinnert, was Herr Schröder, Frau Merkel und die ganzen schlauen Gäste von der Tante Christiansen schon seit Jahren predigen: „Jahrzehntelang war Deutschland in Europa an der Spitze. Da wollen wir wieder hin. Das schafft Arbeitsplätze und Sicherheit.“

Wobei ich leider nicht verstanden habe, ob die Arbeitsplätze schon durchs Wollen oder erst durchs „Spitze sein“ geschaffen werden.

Vielleicht war das einfach zu hoch für mich. Vielleicht war sogar die ganze Rede zu hoch für mich. Denn mit dem Folgenden hat der Onkel Köhler mich ganz konfus gemacht:

„Bei meinen Besuchen im Land begegne ich jedenfalls immer wieder Menschen, die versuchen, gemeinsam etwas für ihre Anliegen in der Heimat zu bewirken […]. Diese Haltung der Bürger kann doch allen Vorbild sein.“

Bürger welcher „Heimat“ bewirken in dem Land, das Onkel Köhler „besucht“, und das ja nicht Deutschland sein kann, weil das ja nur der Onkel Klinsmann besuchen muss, gemeinsam etwas, dass welchen „allen“ Vorbild sein kann? Obwohl der Onkel Bundespräsident ist ja von der CDU, und die sagen schon mal ganz gerne „Heimat“ wenn sie die Bundesrepublik meinen. (Es sei denn, es ist Verbandsversammlung der Vertriebenen, dann sind mit Heimat auch Teile von Polen gemeint…)

Vielleicht war da dieses Jahr irgend ein Ereignis, dass die ganzen Zusammenhänge zwischen Bürgern, allen und der Heimat erklären könnte und ich habe das ganz einfach vergessen.

Und wer weiß, was ich nicht alles noch vergessen hätte, wenn es der Onkel Köhler nicht noch mal erwähnt hätte: Dass wir politisch ein „stürmisches“ Jahr hinter uns haben, dafür jetzt aber auch eine „handlungsfähige Regierung“ und „eine Bundeskanzlerin“. Dass „wir“ nächstes Jahr „Fußball-Weltmeister werden wollen“ (hoffentlich gibt es bei 80 Millionen Bundesbürgern keine Probleme mit der Torwart-Rotation…). Dass „wir“ die Dresdener Frauenkirche „wiederhaben“ (hatten wir sie denn verliehen …?). Dass wir Papst sind.

Und als er dann auch noch daran erinnerte, dass die „Natur uns Demut gelehrt hat, im Süden der Vereinigten Staaten und in Mittelamerika, in Pakistan, und vor allem am Indischen Ozean,“ da habe ich geglaubt, der Onkel Köhler entsteige gleich dem Fernsehgerät und wolle die Kollekte einsammeln.

Die rätselhaften Worte machten plötzlich Sinn, ich wusste wer „Bürger“ und „alle“ sind, was „Heimat“ und „im Land“ bedeuten soll und begriff: Der Onkel Köhler ist als Bundespräsident nicht nur oberster Repräsentant der Bürger sondern auch ihr Aushilfspastor, der eine Konfirmanden-Lektion erteilt.

Darum hat er uns auch nicht mehr wie letztes Jahr als „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“ angesprochen, sondern als „Liebe Landsleute“ und hat damit gemeint: „Liebe Leute, wenn jetzt nicht gleich Ruhe ist und gemacht wird, was ich sage, dann können Tante Merkel und Onkel Münte Euch zur nächsten Bundestagswahl keine Geschenke versprechen!“

Und als ich das endlich verstand, wurde Weihnachten so schön, wie Nikolaus, Weltspartag und die Jahrestagung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages zusammen.


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