Die Moral. Von der Geschichte.

Zurückgekehrt von Max Aues Weg durch den zweiten Weltkrieg lasse ich die öffentliche Diskussion der „Wohlgesinnten“ in Deutschland nochmal Revue passieren und bin verwundert: Die wichtigsten Aspekte scheinen mir in vielen Rezensionen unterbelichtet, die öffentliche Rezeption fast ein großes Missverständnis. Nach meiner Lektüre-Erfahrung handelt es sich bei „Die Wohlgesinnten“ nicht – wie es viele Kritiken nahelegen – um einen pornographischen Gewalt-Roman über den zweiten Weltkrieg sondern um ein sehr moralisches Buch, das vom zweiten Weltkrieg handelt, aber als wichtigstes Thema die moralischen Fragen der Gegenwart hat.

Wie der Autor nicht müde wird zu betonen und wie bei durchschnittlich aufmerksamer Lektüre des Romans kaum zu übersehen ist, stellt der zweite Weltkrieg für Littell vor allem das Modell für seine literarische Frage, seine die Möglichkeiten unmoralischen Handelns betreffende These dar:

„Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr. Wenn ihr davon nicht überzeugt seid, braucht ihr nicht weiterzulesen.“ 35

Oder anders formuliert im Interview:

„Ich möchte mit meinem Buch zeigen, dass es heute ethische Wege gibt, denen man folgen kann, dank der Lehren, die wir aus jener Zeit gezogen haben – obwohl es in den Vereinigten Staaten auch viele junge Männer und Frauen gibt, die freiwillig in den Irak ziehen, um Menschen zu foltern.“
(Interview mit dem Autor im FAZ-Readingroom. Überhaupt sehr aufschlussreich).

Der Leser muss sich die vom Autor vorgeschlagene Lesart nicht zu eigen machen, aber m.E. ist diese bei der Lektüre doch schwer zu ignorieren: Das gesamte 1. Kapitel dient der Explikation seines Vorhabens und sein Protagonist Aue kehrt im Verlauf des Romans wiederholt zu diesen Fragen zurück.

Begreift man den Roman nicht als erzählende Wiedergabe subjektiven Erlebens (bzw. Fiktion desselben), sondern als literarische Versuchsanordnung zur Klärung einer moralischen Frage: „Wie konnten Menschen so etwas tun?“ und dem Beweis einer These: „Niemand ist davor geschützt, vergleichbares zu tun!“, dann ergeben die verschiedenen, sehr heterogenen Ebenen des Romans ein Ganzes: Die merkwürdig hybride – unrealistische – Person des Max Aue (wie schon hier diskutiert), die Handlung, die diesen zu den historischen Brennpunkten der Gewalt führt, die von einigen Rezensenten als exzessiv empfundenen Gewaltdarstellungen, die Beziehung zwischen Max Aue und seiner Schwester.

Dieses Ganze bleibt in sich widersprüchlich und verstörend, weil es nur durch das rationale Konstrukt, die Kontinuität der erzählten Handlung und den Verweisen der einzelnen Motive aufeinander (wobei diese Verweise mal rein formal, mal explizit und mal durch inhaltliche Parallelen gegeben werden) und auf das Konstrukt zusammengehalten wird. Aber wie anders als widersprüchlich und verstörend kann man auf die Fragestellung antworten? Wer behauptete, diese Fragen bündig und abschließend zu klären, müsste ein größeres psychologisches Genie als Sigmund Freud oder ein Scharlatan sein.

Man kann darüber diskutieren, ob alles in dem Werk im Sinne seiner Frage auch literarisch notwendig ist und Littell nicht manchmal über das Ziel hinausschießt. Ob es z.B. den Komplex der inzestuösen Bindung Aues an seine Schwester in der gegebenen Ausführlichkeit braucht. Nichtsdestotrotz verfehlt eine Diskussion, die sich am vermeintlichen Skandalpotential einzelner Motive (Schilderung aus Sicht des Täters, usw., usw.) festmacht, den Kern der Wohlgesinnten.

Definiert man sprachliche Gestaltung und die Vermittlung subjektiver Erfahrung als den eigentlichen Bereich des Literarischen (und erwartet des Holocaust als Thema) erscheint die Aufregung um Littells Roman etwas übertrieben. Der Autor setzt seine sprachlichen Mittel gezielt ein, aber etwas formal überragend Neues entsteht dabei nicht. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zu Imre Kertész „Roman eines Schicksalslosen“ oder – aus der Sicht eines „Nachgeborenen“ – Jonathan Safran Foers „Everything is illuminated“, die beide in einem formalen Sinne „moderner“ als Littells Roman (und übrigens absolut großartig) sind.

Littells Roman wird (wegen: siehe oben) als „Skandal-Buch“ diskutiert. Aber das eigentliche Skandalons des Romans, das die Lektüre m.E. so lohnend macht, ist seine These. Insofern diese eine bestimmte Form der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte stört, bei der er, so will mir scheinen, es primär um die Selbstvergewisserung der eigener moralischen Überlegenheit geht und die Auseinandersetzung mit der Geschichte derart gerade vermieden werden soll, scheint sich auch ein Teil der heftigen Ablehnung, die der Roman hier erfahren hat, zu klären.

Dabei ist seine Aktualität geradezu selbstevident: Die Frage, warum ein so moralisch integer wirkender Mann wie Günther Grass in die Waffen-SS geraten konnte, ist noch nicht abschließend geklärt, Der Spiegel macht diese Woche mit dem Titel: „Die Täter“ auf, gerade ist Jan Phillip Reemtsmas Studie „Vertrauen und Gewalt“ zum Thema erschienen, und die Stichworte Guantánamo und Darfur dürften genügen, um zu zeigen, dass die Frage, wie man zum Täter wird, kein Problem darstellt, dass von nur historischem Interesse ist.

Littells Beitrag zu dieser Diskussion besteht darin, die moralische Selbstgewissheit der Leser in Frage zu stellen. Das scheint mir keine kleine Leistung.

(Ach ja: Und da ich knapp 1400 Seiten in etwas über zwei Wochen „nebenbei“ gelesen habe, muss ich das Buch wohl auch als „spannend“ empfunden haben …)


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