Hast Du mich vermisst, Liebes Tagebuch (6)

Liebes Tagebuch,

wahrscheinlich bist Du schon ganz eifersüchtig auf die neue Rubrik, die ich in den letzten Wochen mit soviel Ernst und Aufmerksamkeit bestückt habe. Hast Du mich vermisst? Ich dich auch. Zur Wiedergutmachung möchte ich dir jetzt kurz anvertrauen, was ich dir sonst ganz lang anvertraut hätte:

Über die bevorstehende Großveranstaltung deren Namen gewöhnliche Sterbliche nicht ungestraft im Mund führen sollten, gäbe es ja jeden Tag etwas Neues zu berichten. Ist aber den nächsten Tag auch schon wieder vergessen. Wenigstens ist jetzt höchstrichterlich entschieden, wo der Bindestrich zwischen WM 2006 und Wurst stehen muss.

Ebenso Wurst ist mir die Aufregung um „Popetown“. Das wird erst interessant, wenn zur Wahrung der religiösen Sitten gefordert wird, dass sogenannte „saudi-arabische Modell“ zu übernehmen. Vielleicht eine Idee für Herrn Koch – die Religionswächter wären dann allerdings Ländersache.

Bevor der Nachwuchs durchs Musikfernsehen verdorben werden kann, muss er allerdings erstmal das Licht erblicken. Ich mache mir natürlich auch Sorgen, dass besonders deutsche Akademikerinnen immer seltener für die Rente pimpern den Koitus vollziehen wollen. Deswegen hätte ich gerne für die BZgA eine zielgruppengenaue (angestrebter Abschluss mindestens Master) „Mach‘s ohne“-Kampagne entworfen.

Allerdings wären die Erfolgsaussichten einer derartigen Kampagne wohl eher gering. Schließlich wird die ganze Aufmerksamkeit fortpflanzungswilliger Bundesbürger schon von Ursula von der Leyen (im weiteren: UvdL) beansprucht. Wer angesichts der täglichen Dosis neuer Initiativen und Vorschläge aus dem Familienministerium den Überblick behalten will, dürfte nicht mal mehr Zeit für `nen Quickie haben, sich aber bereits in dem Kindergarten wähnen, der – wenn ich das richtig verstanden habe – demnächst spätestens ab der dritten Schwangerschaftswoche besucht werden muss.

Genug von Vaterschafts-Bonus-Monaten und Bündnissen für Tischgebete, schließlich war da ja noch die „Blumfeld-Debatte“ (Oliver Fuchs in der SZ): Jochen Distelmeyer produziert eine „stinklangweilige“ (ebenfalls O. Fuchs) Platte mit pomologischer Naturlyrik und anschließendem Diskurs über die Frage, ob er das überhaupt darf. Dabei hatte Blumfeld doch bereits 1992 erkannt: „Mach doch mal einer den Kulturkack aus! Ach geht ja nicht, lass bloß an, bin ja selber drin.“

Ein Ratschlag, der bei den meisten Teilnehmern des „Ersten internationalen Bob-Dylan-Kongresses“ im Frankfurter Institut für Sozialforschung wahrscheinlich auf taube Ohren gestossen wäre. Dabei hätte Adorno ihnen sicher das private Vergnügen an den Produkten der Kulturindustrie auch ohne diese zweite Institutsbesetzung gegönnt (wenigstens blieben diesmal alle Brüste verhüllt).

Egal – ich war eh‘ nicht eingeladen. Vielleicht zum nächsten Kongress: Wenn am Luhmann-Lehrstuhl systemtheoretisch über Kraftwerk fabuliert wird, oder Habermas zum herrschaftsfreien Diskurs über die Werke Yoko Onos ruft.

Bis dahin bleibt mir nichts, als „Lieder vom Ende des Kapitalismus“ zu hören, auf das selbige zu hoffen und mich dir, liebes Tagebuch, anzuvertrauen.


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