Mein unvermeidlicher Meinungsbeitrag zur „Grass-mit-doppeltem-S“-Debatte.
Zu jeder anständigen Literatur-Debatte gehört, dass über Literatur nur am Rande debattiert wird (siehe Handke, siehe Bachmannpreis). Dementsprechend ist auch die Frage, ob, nachdem Günter Grass beim Zwiebel-Häuten seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS entdeckt hat, sein „Werk beschädigt“ sei, eher rhetorischer Natur. Zu Recht: Schließlich wird durch das Grasssche Coming-Out die „Blechtrommel“ nicht schlechter – und „Die Rättin“ auch nicht besser.
Unter dem Aspekt persönlicher und kollektiver Vergangenheitsverarbeitung hingegen ist der „Fall Grass“ aufschlussreich. Mir als einige Dekaden später Geborenem hilft sie ein militärhistorisches Mysterium zu lösen: Wie das mit dem Angriffskrieg überhaupt funktionieren konnte, wenn die deutsche Bevölkerung außer Hitler, Goebbels und den Angeklagten der Nürnberger Prozesse nur aus (Stand 9.5.1945) Widerstandskämpfern und „Flakhelfern“ bestand. Irgendwer muss schließlich mehr als nur „zurückgeschossen“ haben. Man darf getrost annehmen, dass bei entsprechendem Nachdenken noch weiteren Vertretern der „Flakhelfer-Generation“ einfallen könnte, dass ihre Kriegsbeteiligung vielleicht doch ein wenig offensiver war, als es der Wortbestandteil „-helfer“ suggeriert.
Die Aufregung nach dem „überraschenden Geständnis“ des Nobelpreisträgers, in deren Verlauf gleich der Entzug eben jenes Preises sowie diverser Ehrenbürgerwürden gefordert wurde, erscheint mir jedoch ein wenig übertrieben und auch unzeitgemäß. Denn dass die Zugehörigkeit zu bestimmten Truppenteilen kein zureichendes Kriterium für die Beurteilung individueller Schuld darstellt, darf nach der Wehrmachtsausstellung als bekannt vorausgesetzt werden. Auch der Dienst in der vermeintlich normalen Armee schloss die Beteiligung an Kriegsverbrechen nicht a priori aus und Grass war nach eigenen Angaben weder an Verbrechen beteiligt noch hat er sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet.
Gleichwohl seine Begründung für das jahrzehntelanges Schweigen ein wenig mau ausfällt: So ästhetisch diffizil ist das Bekenntnis „Ich bin mit siebzehn Jahren zur Waffen-SS eingezogen worden“ nun auch wieder nicht, dass es glaubwürdig erscheint, er habe bis zum Jahr 2006 nach einer angemessenen Form dafür gesucht.
Womit wir beim eigentlichen Kern der Debatte wären: Es erscheint unwahrscheinlich, dass der Moralist Günter Grass das Verhaltens des gleichnamigen Schriftstellers nicht scharf kritisiert hätte, wenn es sich bei beiden nicht zufällig um dieselbe Person handeln würde (Zwiebelhäute hin oder her).
Das ist eine Kritik die sich Grass, wie er auch selbst einräumt, gefallen lassen muss. Das Gerede vom Ende der „moralischen Instanz“ hingegen ist mit Verlaub ein wenig unverständlich. Schließlich ist der Mann nicht Oberhaupt einer Religionsgemeinschaft – nicht einmal Literaturpapst – sondern Schriftsteller. Und als solcher hat er nur Leser, keine Gläubigen, die bei Nichtbeachten seiner Verdikte allerhöchstinstanzlichen Ärger zu befürchten haben.
Grass autobiographisches Bekenntnis so zu behandeln, als habe der Papst sein erstes Mal geschildert, ist somit ebenfalls eine Form von Heuchelei.
Der von mir anfangs eingeforderte Blick auf die literarischen Qualitäten des Werkes nährt allerdings den Verdacht, dass die wie auch immer geheuchelte Debatte nicht völlig sinnlos ist. Zumindest nach Lektüre des Vorabdrucks in der FAZ kann ich Ijoma Mangolds Kritik in der SZ zustimmen: Wie in Anbetracht des platt-plakativen Titels ja auch schon zu befürchten war, scheint „Beim Häuten der Zwiebel“ keinen Meilenstein der autobiographischen Literatur darzustellen. Möglicherweise ist die Debatte um das Buch noch das interessanteste daran. Und das ist ja mittlerweile der eigentliche Sinn des Nobelpreises, dass man auch noch Jahre nach seiner Verleihung herzhaft diskutieren kann …