Allen wohlfeilen Gemeinplätzen über „unsere immer hektischer werdende Zeit“ und den Regalmetern der entsprechenden Bindestrich-Soziologie zum Trotz erweist sich laut Hartmut Rosa das Phänomen „Veränderungen gesellschaftlicher Zeitstrukturen in der Moderne“ als in gesellschaftstheoretischer Hinsicht erstaunlich wenig erhellt.
Zeitsoziologische Werke beschränken sich zumeist auf die Untersuchung einzelner Aspekte des Phänomens und stehen ebenso unverbunden nebeneinander wie neben der übrigen soziologischen Theorie. Kurz gesagt: Der Zeitsoziologie fehlte es bisher an Anschlussfähigkeit.
Deutlich wird dies z.B. am prominentesten Analytiker des Phänomens ’Geschwindigkeit‘ in der Moderne: Paul Virilio. Seine absichtsvoll irrlichternde Dromologie verweigert sich dem systematischen Zugriff und beschränkt sich auf Untersuchung der Konsequenzen technologischer Geschwindigkeitssteigerung.
Rosa dagegen will in seiner Habilitationsschrift Beschleunigung (stw 1760) eine systematische Untersuchung moderner Akzelerationstendenzen liefern. Rosas Ziel: „ … ein neues Forschungsparadigma zu stiften, dessen Zentrum die Beschleunigung in den Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft ist.“ (S. 58). Das wichtigste Ergebnis vorweg: Das gelingt.
Im methodenpluralistischen Zugriff – unter starker Berücksichtigung der verschiedenen Generationen kritischer Theorie sowie der Systemtheorie – belegt Rosa überzeugend seine These, dass „soziale Beschleunigung in der Moderne zu einem sich selbst antreibenden Prozess geworden ist.“ (S. 243) Er entwickelt das systematische Instrumentarium zur Differenzierung der unterschiedlichen Aspekte des Phänomens (wie: technologische Beschleunigung, Wandel der Strukturen und Selbstverhältnisse von Individuen und Kollektiven sowie Steigerung des „Lebenstempos“).
In der Zusammenfassung empirischer Ergebnisse liefert er dabei en passant eine treffende Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Industriegesellschaft. (Die auch nicht ohne Witz ist. So wenn er „schneller kauen oder beten“ als Möglichkeiten dem gestiegenen Zeitbedarf der Moderne zu begegnen benennt. S. 135)
Der Erklärungswert seiner Theorie zeigt sich auch daran, dass er die Moderne-typische Dialektik der gleichzeitigen Erfahrung von Beschleunigung der Lebensverhältnisse und kulturellem Stillstand (Letzteres paradigmatisch in Nietzsches „Wiederkehr des Immergleichen“ formuliert) erhellen kann.
Während reine Betrachtungen der wachsenden Komplexität der Lebenswelt einen qualitativen Bruch zwischen der sog. klassischen Moderne und der als Post- oder Spätmoderne zu beschreibenden Gegenwart nur konstatieren können, liefert Rosa ein Kriterium zur Beschreibung besagten Phänomens: Bis Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts erstreckte sich sozialer Wandel über die eigene Lebenspanne – individuelle und kollektive Planung fand in einem generationalen Erwartungshorizont statt.
Demgegenüber ist die Postmoderne durch einen intragenerationalen Wandel lebensweltlicher Randbedingungen (wie Sozialsystem, Gesetzgebung, etc.) gekennzeichnet. Durch diesen Verlust langfristiger Stabilität erscheinen die Veränderungen den Individuen richtungs- und damit sinnlos. Subjekte und Politik reagieren zunehmend situativ, wodurch die Ausbildung stabiler subjektiver Identitäten sowie die Erfahrung von Geschichte im traditionellem Sinne einer linearen Entwicklung verhindert wird.
Die entsprechenden Schlagworte postmoderner Theoriebildung lauten „fragmentierte Identität“ und „Ende der Geschichte“(Posthistoire) und Rosa kann zeigen, in welchem Rahmen beide Schlagworte ihre Berechtigung haben.
Rosas beschränkt sich – gemäß seines Anspruches, eine „kritische Theorie der Beschleunigung“ (S. 449) zu entwickeln – nicht Deskription und Ursachenforschung. Ebenso betrachtet er die Konsequenzen der diagnostizierten Entwicklung für das »Projekt der Moderne«.
Womit wir bei den Defiziten der Arbeit wären: So prägnant und konsistent die Beschreibung des untersuchten Phänomens auch ist, am Anspruch mit „Beschleunigung“ gewissermaßen eine Dialektik der Aufklärung für das 21. Jahrhundert abzuliefern, überhebt sich der Autor.
Rosa verzichtet darauf, seinen Gesellschaftsbegriff genauer zu explizieren und wendet ihn gleichsam naiv an. Doch ist gerade bei Betrachtung der als „Globalisierung“ bezeichneten Veränderungen sowie der Konsequenzen von Informations- und Medientechnologie eine Klärung des stark mit dem Konzept des Nationalstaates als quasi autonomer ökonomischer Einheit assoziierten Begriffs „Gesellschaft“ unabdingbar.
Statt auf „Gesellschaft“ setzt Rosa – im Anschluss an Habermas – auf das „Projekt der Moderne“ als zu betrachtende Größe.
Der Begriff der Gesellschaft bedarf einer Konkretisierung im Hinblick auf die jeweils betrachtete Epoche und soziale Formation, im Gegensatz dazu erweist sich eine Konkretisierung des „Projektes der Moderne“ als schwer möglich. Bereits der Zusammenhang der im Epochen-Label „Moderne“ zusammengefassten sozialen, kulturellen, ökonomischen und technologischen Entwicklungen ist ohne die Betrachtung von Gesellschaft nicht möglich. „Projekt“ impliziert dann noch eine Intentionalität der Entwicklung, deren historisches Subjekte schwer zu verorten sein dürften. Dass die gesellschaftlichen Akteure der Moderne an eben dieser arbeiten, dürfte ihnen selbst zumeist nicht bewusst gewesen sein.
Die „Projekt der Moderne“-Metapher allerdings ermöglicht erst Rosas These, „dass soziale Beschleunigung als irreduzibles und tendenziell dominantes Grundprinzip von Moderne und Modernisierung zugleich zu verstehen ist.“ (S. 441) Denn Rosa folgert daraus, dass die dominante Form der Ökonomie – also im Klartext: der Kapitalismus – als Folge der tendenziell dominanten Beschleunigung zu verstehen ist.
Entsprechend bemüht sich Rosa, neben der ökomonischen Entwicklung andere Faktoren als Motor der Beschleunigung zu bestimmen: (im Anschluss an Virilio) die Entwicklung des Militärs und (unter einem m.E. sehr großzügigen Rückgriff auf Weber) den Prozess der Säkularisierung.
Hier soll zwar keineswegs ein vulgär-marxistischen Basis-Überbau-Modell verteidigt werden, dennoch stellt diese Betrachtungsweise eine gravierende Verwechslung von Ursache und Wirkung – bzw. Ursache und Wechselwirkung – dar.
Sicher sind die Temporalstrukturen einer Gesellschaft entscheidend für die Übersetzung der ökonomischen Verhältnisse in soziale und individuelle Selbstverhältnisse, die wiederum als weiterer Beschleuniger der Ökonomie fungieren. Der Begriff der Gesellschaft macht nur dann Sinn, wenn man Gesellschaft als funktionalen Zusammenhang begreift. Dieser besteht jedoch – salopp formuliert – nicht darin, dass alle im gleiche Rhythmus ticken, sondern im Austausch von Waren und Dienstleistungen (oder Kommunikationsakten) zwecks Reproduktion der Gesellschaft.
Die Temporalstrukturen einer Gesellschaft strukturieren zwar die ökonischen und kulturellen Interaktionen, sind aber wiederum durch diese vermittelt.
Wie auch Rosa impliziert, wenn er feststellt, dass der „Mechanismus der Übersetzungsleistung funktionaler Notwendigkeiten […] in kulturelle Orientierungen jedoch weitgehend rätselhaft“ in den modernen Gesellschaften westlichen Typs bleibt (S. 480) und damit andeutet, dass die Ökonomie eben doch grundlegendere Struktur sozialen Wandels darstellt.
Die Wechselwirkung zwischen Temporalstruksturen als kulturelles und ökonomisches Phänomen einerseits und der Ökonomie andererseits dahingehend zu reduzieren, dass die Zeitstrukturen zum dominanten Prinzip erklärt werden, scheint somit auch Rosa in seiner Theorie nicht durchhalten zu können. (Ein Aspekt, der allerdings genauerer Untersuchung bedürfte.)
Dieser grundlegende Einwand schmälert nicht den Wert der systematischen Analyse und den Wert dieser Systematik für Beschreibung und Verständnis der postmodernen Industriegesellschaft. Sollte unter deren Bedingungen noch die Herausbildung von Klassikern der Gesellschaftstheorie möglich sein, hat „Beschleunigung“ beste Chancen zum künftigen Kanon gesellschaftstheoretischer Literatur zu gehören.