Mit Sappho nach Hiroshima.

Nietzsche fragte, welche „Nothlage“ die antiken Griechen „absurd-vernünftig“ werden ließ* – Spiegel-Leser wissen seit gestern mehr: Die Griechen haben sich zur Philosophie durchgevögelt.

„Nach Ansicht vieler Experten“ gilt laut Spiegel-Autor Matthias Schulz: „Das Land stieg zur Topkultur auf, weil es die Sexualität produktiv für sein Handeln nutzte.“ (Spiegel 48/06, S. 193)

Leider verrät der Autor das Gebiet der Expertise der angesehenen Experten ebensowenig wie er seine steile These mit stichhaltigen Argumenten unterfüttert. Andere mögliche Ursachen des Abstraktionssprunges in der Antike – wie die Einführung des Münzwesens in Milet und die Problematik der fortschreitenden Parzellierung des Landbesitzes – werden zwar beiläufig erwähnt, aber nicht weiter verfolgt.

Muss wohl auch nicht – handelt der Text bei genauerer Betrachtung doch mehr von der Ideologie der Gegenwart als der Vernunft der Vegangenheit. Das antike Griechenland according to Schulz unterscheidet sich nur wenig von der Epoche des globalisierten Neoliberalismus. Von anderen Epochen, die Objekt populärstwissenschaftlicher Geschichtsschreibung wurden, unterscheidet sie ohnehin nichts.

Ein Großteil der Textmenge besteht aus der unzusammenhängenden Beschreibung von technischen Höchstleistungen und pittoresken kulturellen Praktiken – unter besonderer Berücksichtigung der Sexualität. Demokrit, dessen Atomtheorie angeblich geradewegs nach Hiroshima führte, darf ebensowenig fehlen wie Sappho, deren „Heimatinsel Lesbos zum Symbol gleichgeschlechtlicher Liebe wurde“ (S. 205) und die – so legt der Text nahe – als Urmutter aller „Schwulen- und Lesbenparaden“ angesehen werden muss.

Der Nachweis der geschichtlichen Kontinuität von Sappho zur Atombombe ist dabei ungleich wichtiger für die ideologische Funktion des Textes als die Darstellung pikanter Details („Scherben, bemalt mit akrobatischen Sexualakten“ – S. 191) ist. Man kann sich des Eindruckes schwer erwehren, dass diese Geschichtsaufklärung in erster Linie der Rechtfertigung der Gegenwart dienen soll.

So haben wir uns laut Schulz die alten Griechen als wirtschaftsliberale Global – oder zumindest Mediterranean – Player vorzustellen: „Wo es möglich war, stärkten sie die Privatinitiative und förderten den Wettbewerb. Steuern waren fast unbekannt.“ (S. 200) Ob die Flat-Tax-Griechen Bürgerversicherung oder Kopfpauschale bevorzugten bleibt allerdings leider unerwähnt.

Wo die Geschichte nicht passt, wird sie passend gemacht und Thales als hauptberuflicher Ölmühlen-Spekulant, der Mathematik und Philosophie nur als Hobby pflegte, vorgestellt. Soweit ich mich ans Philosophiestudium erinnere, wird das bei Aristoteles eher andersrum geschildert …

Wobei Thales noch besser wegkommt als Sokrates, Platon und Aristoteles. Für die „ersten Vorarbeiten“ (S. 192) zum Bau von Raketen und der Erforschung Schwarzer Löcher (und ich dachte nach „2001“ immer, das wären die Neandertaler gewesen…) gibt‘s gleich mehr als nur eine lobende Erwähnung von Schulz. Während den bis heute einflussreichsten antiken Philosophen nur ein kleiner Absatz gewidmet wird.

„Das gesamte frühe Griechentum“, das uns nach der obligaten rhetorischen Figur am Anfang, „fern und rätselhaft“ anmutet (S. 191), teilt mit den Bundesbürgern nicht nur die Sorge um Ballistik- und Steuerkurven, vielmehr wird es von Schulz zielsicher in einem nur allzu vertrauten Kampf der Kulturen positioniert: Gegen den „Orient“, wo „überall der süße Duft der Religion wogte“ (S. 192). Denn: „Westlicher Wissensdurst contra östliche Glaubenskraft – diese Front ist immer noch aktuell.“ (S. 193)

Mittels einer gemeinhin als Recherche bekannten journalistischen Technik hätte Schulz erfahren können, dass Sokrates den Schierlingsbecher nicht aufgrund von Verstössen gegen das athenische Steuerrecht – und auch nicht aufgrund von Verletzung der Scharia – überreicht bekam. Und dass die von ihm behauptete kulturelle abendländische Kontinuität von der Antike in die Gegenwart überhaupt nur möglich ist, weil im Mittelalter islamische Gelehrte das mathematische und philosophische Wissen der alten Griechen als Re-Import ins Abendland brachten.

Die Behauptung eines kontinuierlichen Kulturkampfes zwischen Orient und Okzident ist daher ebenso so unsinnig wie die Erklärung antiker kultureller Blüte aus der „Bejahung des Geschlechtstriebes“ (S. 193). Beides gehört eher zum Bild der Gegenwart.

Wobei aus der umstandslosen Bejahung von Geschlechtstrieb und Unternehmergeist in der Moderne nicht unbedingt auf eine gegenwärtige Blüte der Vernunft zu schliessen ist. Nach Lektüre dieser „Entdeckung der Vernunft“, drängt sich vielmehr der Verdacht auf, dass in Platons Höhle langsam das Licht ausgeknipst wird.

*) Vgl. „Götzendämmerung“ in KSA, BD. 6, S. 72 – oder hier.


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